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Serie «Carlos Reygadas»
— XENIX del 26.04., al 26.05.2019, Kino Xenix ZH
• Japón (2002),
• Batalla en el Cielo (2005),
• Post Tenebras Lux (2012)
• Stellet Licht (2007)
• Nuestro Tiempo (2018)
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You gotta get in to get out
Hollywood ist fest in mexikanischer Hand. Fünf der letzten sechs Regie-Oscars gingen an die drei Mexikaner Alfonso Cuaron, Alejandro González Inarritu und Guillermo del Toro. Da ist es gut, sich an einen anderen mexikanischen Meister zu erinnern, dessen Filme alle in Mexiko entstanden sind und auch dort spielen: Seit Carlos Reygadas mit Ende zwanzig seine Karriere als Völkerrechtler und UNO-Diplomat fürs Kino aufgab, erarbeitet er langsam, aber leidenschaftlich (und weit weg von Hollywood) ein grosses Œuvre. In seiner Heimat gilt er, der schon für seinen ersten Film zusammen mit dem Weggefährten Jaime Romandia die Produktionsfirma Mantarraya gründete, als Einzelgänger. Seine grössten Erfolge feierte er in Europa, vor allem in Cannes, und die Regisseure, die sein Schaffen am meisten inspirieren, stammen weder aus Mexiko noch aus den USA, sondern heissen Tarkowski, Bresson, Dreyer, Fassbinder oder Apichatpong Weerasethakul.
Reygadas gilt als kryptisch und polarisierend. Auf den ersten Blick könnte man seine Filme als reisserisch und auf oberflächliche Schockwirkung angelegt empfinden, weil sie sich fast immer um Sex und Gewalt drehen. Das wäre allerdings eine Fehlinterpretation. Zwar geht es in jedem seiner Filme um Grenzüberschreitungen, um Sex und Gewalt. Ein medial aufgeheizter Skandal waren im Erstling JAPÓN (2002) die expliziten Liebesszenen eines namenlosen Selbstmordkandidaten mit einer sechsundsiebzigjährigen Indígena; in der unmittelbaren Nähe zum eigenen Tod erwacht sein Begehren auf eine Weise, die aller gängigen Idealisierungen spottet. In BATALLA EN EL CIELO (2005) geht es um eine bizarre und tödliche Amour fou zwischen einem Chauffeur und der gelangweilten Tochter seines Chefs. STELLET LICHT (2007), den Reygadas als seinen persönlichsten Film bezeichnet, erzählt von einem Ehebruch in der Plautdietsch sprechenden, traditionell lebenden mennonitischen Gemeinde im Norden Mexikos. Und POST TENEBRAS LUX (2012), das zugleich rätselhafteste und bisher schönste Werk des Regisseurs, handelt unter anderem von Internetporno-Sucht, vom Besuch eines Paares in einem Swingerklub und zeigt eine Selbstenthauptung.
Bei alledem geht es aber nie um Effekte, eher um Affekte. Reygadas erzählt keine süffigen Identifikations- oder Action-Geschichten; überhaupt ist sein Kino weniger dramatisch als lyrisch. Die Irritationen und Zuspitzungen entwickeln sich aus dem Zusammenspiel von Dialogen, ereignisarmen Standbildern, Geräuschkulissen, meditativen Kamerafahrten. Der Regisseur wird zum Maler oder auch zum Architekten. Geduldig und präzise baut Carlos Reygadas seine verstörenden, betörenden Filme. «Drei oder vier Jahre lang denke ich den Film», erzählte er mir vor einigen Jahren, «dann schreibe ich in zwei Tagen, in einer Art «écriture automatique» das Grundgerüst des Drehbuches, an das ich mich beim Drehen strikt halte, da bin ich wie Hitchcock.» Das Drehbuch ist für Reygadas «wie ein architektonischer Plan», und es enthält «die kompletten Bilder mit allen Farben und dem dazugehörigen Ton».
In diesen Räumen und Landschaften könnte man stundenlang schwelgen, ohne dass viel passiert, am liebsten möchte man sie aus der Leinwand schneiden und mit nach Hause nehmen: die staubige Schlucht im Bundesstaat Hidalgo, in die sich der Namenlose aus JAPÓN begibt, um seinem Leben ein Ende zu setzen; die Eingangssequenz von POST TENEBRAS LUX mit der regengetränkten Wiese, auf der ein kleines Mädchen durch rosa Nebelschwaden tapst, während Pferde vorbeigaloppieren und Hunde kläffen. Das neue Werk, NUESTRO TIEMPO (2018), spielt auf einem Rancho im Bundesstaat Tlaxcala, etwas östlich von Mexiko-Stadt. Hier züchtet der Dichter Juan (gespielt von Reygadas selbst) zusammen mit seiner Frau Esther (gespielt von Reygadas’ Frau Natalia López) Kampfstiere und verwickelt sich in eine schmerzhafte Dreiecksgeschichte, indem er Esther ermutigt, sich auf eine Affäre mit einem befreundeten Gringo, dem Pferdeflüsterer Phil, einzulassen, gleichzeitig aber versucht, die Liebesgeschichte zu kontrollieren und zu manipulieren.
Die Protagonisten der Ménage à trois sind aber kaum wichtiger als die vielen anderen Akteure: die Kinder des Paares (wie schon in POST TENEBRAS LUX Reygadas’ eigene Kinder Eleazar und Rut), die Angestellten in Haus und Hof; die allgegenwärtigen Hunde und die obszön ächzenden, streitsüchtigen Stiere im Morgennebel; die rissige Erde, die der Regen aufweicht, der Wind in den Bäumen und die Vögel, die im Abendlicht darüber hinwegfliegen; der nächtliche Strassenverkehr in der Megacity México; die leeren Räume der Hacienda, die zufällig und nebenbei jemand betritt und wieder verlässt. Als Esther mit entrückter Miene in ihrem Pickup von einem Schäferstündchen mit Phil zurückkehrt, finden wir uns plötzlich im Motorraum wieder, wo die Schläuche vibrieren und die Riemen rotieren – zum Sound der CD, die Esther eingeschoben hat: «The Carpet Crawlers» von Genesis mit dem berühmten Refrain: «You gotta get in to get out …» Mittendrin sind wir im Getriebe des Begehrens, zwischen Gaspedalen, Armaturen, den frischen Erinnerungen Esthers an das Liebesspiel verschwommener Körper und dem befruchtenden Regen, durch den sich das Fahrzeug schlammspritzend seinen Weg bahnt.
Der rote Faden in Reygadas’ Filmen sind die Widersprüche, in die sich Menschen verwickeln, und die Grenzen, die sie überschreiten, weil sie etwas suchen, wodurch sie über sich selbst und die prosaische Welt hinausgelangen. Dieses Darüberhinaus kann man Transzendenz nennen, Spiritualität – oder Kunst. Durchaus im Sinne der Surrealisten und ihrer Ideale «amour», «désir», «poésie». Der Dichter Juan sucht seine Inspiration und die wahre Liebe, die er verloren zu haben glaubt, indem er seine Frau mit einem anderen Mann beobachtet. Aber das Absolute ist nicht so unmittelbar zu haben. Es neigt zum Verpuffen, wenn man gewaltsam danach greift. You gotta get in to get out. Wer hinauswill, muss zuerst hinein, tief hinein in die schlichte, banale Wirklichkeit einer geschlossenen Haustür, eines von Flechten überzogenen Baumes oder einer Tasse Kaffee, die die Hausangestellte zubereitet. Auf die Frage, ob er nach einer idealen Welt suche, sagt Reygadas: «Meine frühere Welt, die Welt des Rechts, war idealistisch. Das Kino hingegen ist das Reale. Ich könnte einfach eine Standaufnahme von Gras machen, und es wäre nicht mehr nur Gras. Die Erzählung wäre dann, wie das Gras gefilmt wird, seine Bewegung, seine Farbe, die Länge der Aufnahme, der Abstand der Kamera, der Ort der Szene im Film.» Reygadas arbeitet nie mit professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern, immer mit Freunden, Bekannten, Leuten, denen er in einem Restaurant oder Supermarkt begegnet. Und abgesehen von seinen Kindern waren es immer wieder neue Laiendarstellerinnen und Laiendarstellern. Auch das begründet er damit, dass es im Kino nicht um das «Schauspielern» gehe, sondern um Präsenz. Dass seine Frau und er die Hauptrolle übernehmen, hat für ihn aber vor allem praktische Gründe; keinesfalls soll der neue Film autobiografisch gelesen werden. Nicht um pseudo-authentische Selbstentblössung geht es, sondern um das Verhältnis von Realität und Fiktion, um den Weg, der bei dem anfängt, was einfach da ist, und der im Kunstwerk endet … und neu beginnt.
(Michael Pfister)
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